Minima Meinungen

Dr. Gerald Fricke
2 min readSep 2, 2020

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Theodor Wiesengrund Adorno hat in einem schönen Essay von 1963 die als „normale Meinungen“ verbrämten narzisstischen Kränkungen und Wahnvorstellungen unserer Zeit als „pathische Meinungen“ bezeichnet. Eine treffende Analyse, wie ich meine.

Theodor W. Adorno, Meinung Wahn Gesellschaft; in: Ders., Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt/M. 1963.

Die narzisstische Meinung regiert. Ein Beispiel: Die Kommentare der „Tagesthemen“ sollen zukünftig „Meinung“ heißen (siehe hier). Aha. Vielleicht könnte man den Gattungszweiflern, Wut- und Hutbürgern oder der Heilpraktikerin aus der Eifel ja noch ein Ideechen weiter entgegen kommen und bspw. „nur die persönliche Meinung eines Mainstream-Journalisten“ darüberschreiben, so möchte ich polemisch kommentieren.

Früher, in der guten alten Zeit des sozialen Internets, also bis ca. 2009, haben sich die Weltgekränkten noch vornehmlich über Zugverspätungen und unzureichende Hotelzimmer beschwert, so meine teilnehmende Beobachtung, oder durch passiv-aggressives Nicht-Liken ihren Unmut über Mittagessensfotos zum Ausdruck gebracht.

Heute geht es ihnen um größere Dinge. Es gibt ja tatsächlich viele sehr erfolgreiche Menschen, die zum Beispiel von der Bundesregierung NICHT über jede politische Entscheidung persönlich befragt wurden und jetzt die Möglichkeit haben, davon einer Weltöffentlichkeit zu erzählen. Und sich an „Greta“ abzuarbeiten, zum Beispiel.

An die Stelle der Erkenntnis eines Gegenstandes tritt die Meinung um die Sache, so Adorno: „Was einer für eine Meinung hat, wird als sein Besitz zu einem Bestandstück seiner Person, und was die Meinung entkräftet, wird vom Unbewussten und Vorbewussten registriert, als werde ihm selber geschadet. Rechthaberei, der Hang der Menschen, törichte Meinungen selbst dann hartnäckig zu verteidigen, wenn ihre Falschheit rational einsichtig geworden ist, bezeugt die Verbreitung des Sachverhalts. Der Rechthaber entwickelt, um nur ja die narzisstische Schädigung von sich fern zu halten, die ihm durch die Preisgabe der Meinung widerfährt, einen Scharfsinn, der oft weit seine intellektuellen Verhältnisse übersteigt.“

Diese pathische Meinung ist die Volksgemeinschaft des Gedankenapparats, gegen die auch die Vernunft nicht ankommt. „[Die Meinung] bietet Erklärungen an, durch die man die widerspruchsvolle Wirklichkeit widerspruchslos ordnen kann, ohne sich groß dabei anzustrengen. Hinzu kommt die narzisstische Befriedigung, welche die Patentmeinung gewährt, indem sie ihre Anhänger darin bestärkt, sie hätten es immer gewusst und gehörten zu den Wissenden.“

Dagegen helfe nur die „(…) Anstrengung von Kritik. Wahrheit hat keinen Ort als den Willen, der Lüge von Meinung zu widerstehen.“

Tja. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen, ne!

Theodor W. Adorno, Meinung Wahn Gesellschaft; in: Ders., Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt/M. 1963.

Dr. rer. pol. Gerald Fricke, Politikwissenschaftler und Wirtschaftsinformatiker, forscht zur Webgesellschaft, berät Unternehmen zur Digitalen Transformation und postet jeden Tag sein Mittagessensfoto, irgendwo im Social Web.
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http://geraldfricke.de

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Was mit Webgesellschaft, Wirtschaftsinformatik, Politikwissenschaft, Beratung, Literatur und Satirekompetenz. Website: http://geraldfricke.de

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