Legitimationsprobleme im Spätinternet

Dr. Gerald Fricke
5 min readJul 10, 2020

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Die blockierte Transformation zur Webgesellschaft / Von Gerald Fricke

Die „Große Transformation“ der Massengesellschaft zu einer Webgesellschaft ist blockiert, so die These. Auch das „späte Internet“ und die Plattform-Ökonomie bieten keine Lösung für die Weltprobleme, die sich seit der Corona-Pandemie verstärken. Wir erleben eine Regression des guten alten Mitmach-Internets. Der Rückkanal ist immer weniger gefragt, es gibt die Renaissance des weltgekränkten imperialen „Sendens”. Kaiser Wilhelm hätte sich auf Twitter vermutlich ähnlich wie Donald Trump angehört. Aber warum? Und was würde Jürgen Habermas tun?

Dr. Gerald Fricke über “Legitmationsprobleme im Spätinternet”

Seit dem Ende des keynesianischen Zeitalters Anfang der 1970er erleben wir die „Große Transformation“ (Karl Polanyi) der Massengesellschaft zu einer Webgesellschaft, so meine These. Ein Merkmal dieser Transformation ist die Gleichzeitigkeit von Vereinheitlichung und Zerfall: Auf der einen Seite kommt die Welt zusammen, die nationalstaatlichen Risikogesellschaften haben sich zu einer „Weltrisikogesellschaft“ (Beck 1996) verdichtet, auf der anderen Seite nehmen die Unterschiede zu. Die Corona-Probleme sind Weltprobleme, ihre „Lösung“ wird durch nationale und lokale Egoismen in den klassischen Arenen der Politik erschwert.

Auch das „späte Internet“ und die Plattform-Ökonomie bieten keine unmittelbare Lösung. Seit der Weltfinanzkrise von 2008 erleben wir eine „blockierte Transformation“, die Regression des Internets als Agora der Webgesellschaft. Der Rückkanal ist immer weniger gefragt, es gibt die Renaissance des egozentrischen und weltgekränkten „Sendens“. Auf dem Nachrichtenkanal Telegram beispielsweise senden Fernsehköche oder ehemalige Tageschausprecherinnen ihre Verschwörungsmythen zur Corona-Pandemie an ihre Anhängerschaft. Kaiser Wilhelm hätte sich hier, mit Hunnenrede (hier ein Tondokument) und „Daily-Telegraph-Interview“, vermutlich sehr wohl gefühlt und ähnlich angehört.

Die Probleme einer Pandemie entstehen auf lokaler, nationaler und globaler Ebene — und ihre Folgen sind ebenso, auf lokaler, nationaler und globaler Ebene spürbar. Über diese Folgen, ihre Wirkungen und Kosten, wird multilateral verhandelt — von der Videokonferenz der EU-Staaten bis zum WhatsApp-Chat der Kita-Elterngruppe, geht es um die Frage, wer welche Kosten der Pandemie zu bezahlen hat.

Diese Konflikte werden nicht nur in den klassischen Arenen der Politik ausgetragen, sondern immer stärker im Social Web. In der guten alten Zeit, also bevor das Social Web von Rechtspopulisten gekapert wurde, hätte die fortschrittliche Empfehlung gelautet: Warum zur Coronabekämpfungs-Politik nicht jemand fragen, der sich damit auskennt — die Massen im Internet! Die These von der „Weisheit der Massen“ (Surowiecki 2004) würde, übertragen auf die Eindämmungs-Politik, bedeuten, dass die Massen möglicherweise „bessere“ Lösungen anzubieten hätten, als die Experten aus Politik oder der Wissenschaft.

Aber wofür steht diese Weisheit der Vielen? Für einen allgemeinen Willen, den Volonté générale im Sinne Jean-Jaques Rosseaus, auf den sich auch die weltweiten Populisten berufen? Oder lieber einen allgemeinen Willen zum vernünftigen Umgang mit dem Virus und der Nutzung von Schutzmasken, zum Beispiel? Die möglichst virenfreie Atmosphäre im öffentlichen Raum oder im Supermarkt gehört allen und niemandem, daraus ergibt sich eine Tendenz zur Übernutzung. Diese Interpretation bezieht sich auf die von Garret Hardin (1968) formulierte „Tragödie der Gemeingüter“. Mancur Olson (1968) beschrieb das ähnliche Problem des kollektiven Handelns, welches darin besteht, dass die Einzelnen keinen Anreiz haben, für öffentliche Güter zu bezahlen, von deren Nutzung sie nicht ausgeschlossen werden können.

In der Praxis ist das Social Web in seiner derzeitigen Form keine virtuelle bessere Welt, die allen gehört, sondern als Oligopol in privatwirtschaftlicher Hand. Das Web hat nicht nur gesellschaftliche Vernetzungen befördert, sondern auch weltweite Ungleichheiten und Machtasymmetrien dramatisch beschleunigt. Dazu eine beispielhafte Zahl: Etwa die Hälfte aller Twitter-Accounts, die im Frühjahr 2020 eine „Öffnung“ der USA fordern sind keine besorgten Bürger oder Geschäftsleute, sondern — Bots (siehe hier). Gegen diese Bots-Armee müssten in einer global vernetzten, dezentralen Webgesellschaft die vernünftigen Menschen antreten. Also genau das gesellschaftliche Fachpersonal, das sich in den letzten 10, 15 Jahren eher herausgehalten hat, aus dem Social Web. Siehe meine Diagnose hier.

Der vielbeschworene „Rückkanal“ im Internet hat die Ansprüche an direkt-demokratische Einflussnahme gestärkt. Ansprüche, die „die Politik“ nicht einlösen kann. Zum Beispiel den Anspruch, dass die Exekutive sämtliche Infektionsschutz-Gebote am besten mit jedem einzelnen Bürger oder Berliner Club-Besitzer persönlich abzuklären habe. Das, was daraus resultiert, hat Jürgen Habermas schon 1973 „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“ genannt. Einer der wunderbarsten und fehl interpretiertesten Buchtitel der alten Bundesrepublik. Gemeint war damit NICHT, dass der Spätkapitalismus eo ipso Legitimationsprobleme hätte, sondern dass der Wohlfahrtsstaat in seiner expansiven Phase Erwartungen gezüchtet habe, die er prinzipiell unter „spätkapitalistischen“ Bedingungen eben nicht (mehr) einlösen könne. Dadurch sei der Wohlfahrtstaat in seiner Legitimation herausgefordert. Am Vorabend der großen Weltverflechtungskrise 1973/74 und der dräuenden „neoliberalen Konterrevolution“ (Elmar Altvater), wie wir heute wissen.

Wie damit umgehen? Die Wahrheit zwischen Weltverschwörung und sinnvoller Virus-Eindämmungspolitik liegt vermutlich nicht „in der Mitte“, und Diskussionen mit Widerstandskämpfern oder ostentativen Nicht-Händewaschern erscheinen sinnlos. Das theoretische Problem besteht darin, ob und wie es einer großen Gruppe — in diesem Fall der großen Gruppe der „vernünftigen Pandemie-Eindämmungsbefürworter“ grundsätzlich möglich ist, öffentliche Güter (wie die möglichst virenfreie Atmosphäre) gemeinsam zu schützen und wie dem Trittbrettfahrer-Verhalten von Individuen oder Unternehmen, die sich nicht an Schutzmaßnahmen beteiligen, gleichwohl aber vom Gesamtnutzen der Eindämmungspolitik profitieren, zu begegnen ist.

Diese Herausforderung könnte auch neue Möglichkeiten einer umfassenden Beteiligung von Akteuren und Betroffenen eröffnen — und sei es aus den weltweit vernetzten Heimbüros. Wenn sich die Ökonomie und die Gefahren globalisieren, so die normative These, müsse sich auch die Politik und damit die Demokratie globalisieren und eine Weltinnenpolitik befördern. Am besten mit einer „Kommunikationsgemeinschaft der Betroffenen, die als Beteiligte (…) den Geltungsanspruch von Normen prüfen und, sofern sie ihn mit Gründen akzeptieren, zu der Überzeugung gelangen, dass unter den gegebenen Umständen die vorgeschlagenen Normen ‚richtig‘ sind“ (Habermas 1973, S. 144). Zum Beispiel zur Entwicklung und weltweit gerechten Verteilung eines Impfstoffs.

Die vorherrschenden Ungleichheiten in der Welt sprechen nicht unbedingt dafür. Bleiben wir trotzdem positiv, denken wir dialektisch und utopisch, vernetzen wir uns, machen wir die Promotoren gesellschaftlichen Wandels und einer vernünftigen Pandemie-Bekämpfung aus. Ohne Kaiser Wilhelm.

Dr. rer. pol. Gerald Fricke, Politikwissenschaftler und Wirtschaftsinformatiker, forscht zur Webgesellschaft und berät Städte, Unternehmen und Start-Ups zur Digitalen Transformation. Er war Akademischer Rat an der TU Braunschweig, Internet-Konzeptioner bei Elephant Seven, hat über internationale Klimapolitik promoviert, Bücher über komische Jahrzehnte geschrieben und postet jeden Tag sein Mittagessensfoto, irgendwo im Social Web. Website: http://geraldfricke.de

Literatur

Altvater, Elmar, 1981: Der gar nicht diskrete Charme der neoliberalen Konterrevolution. PROKLA. Zeitschrift für Kritische Sozialwissenschaft, 11(44), 5–23.

Beck, Ulrich, 1996: Weltrisikogesellschaft, Weltöffentlichkeit und globale Subpolitik. Ökologische Fragen im Bezugsrahmen fabrizierter Unsicherheiten, in: Diekmann, Andreas/Jäger, Carlo C. (Hg.), 1996: Umweltsoziologie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 36/1996, Köln, 119–147.

Habermas, Jürgen, 1973. Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt am Main.

Hardin, Garrett, 1968: The Tragedy of the Commons; in: Science, 162 (1968), 1243–1248.

Olson, Mancur Jr.:, 1968: Die Logik des kollektiven Handelns: Kollektivgüter und die Theorie der Gruppen, Tübingen (3. Aufl. 1992).

Rousseau, Jean-Jacques, 2006: Der Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, Wiesbaden 2006 (Erstausgabe 1762).

Surowiecki, James, 2004. The Wisdom of Crowds: Why the Many Are Smarter Than the Few and How Collective Wisdom Shapes Business, Economies, Societies and Nations, London.

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Written by Dr. Gerald Fricke

Was mit Webgesellschaft, Wirtschaftsinformatik, Politikwissenschaft, Beratung, Literatur und Satirekompetenz. Website: http://geraldfricke.de

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