Die Corona-Eindämmung als Verhandlungssache der Webgesellschaft

Dr. Gerald Fricke
8 min readJul 23, 2020

Oder auch: Legitimationsprobleme im Spätinternet

VON GERALD FRICKE

“Die möglichst virenfreie Atmosphäre als öffentliches Gut”, Gerald Fricke

Die „Transformation zur Webgesellschaft“ ist offen, unabgeschlossen und niemals fertig, die älteren Hörer meiner Vorlesung erinnern sich. Das gilt auch für die Probleme einer Pandemie. Diese Probleme sind Weltprobleme, ihre „Lösung“ wird durch nationale und lokale Egoismen in den klassischen Arenen der Politik erschwert. Auf der einen Seite kommt die Welt zusammen, auf der anderen Seite nehmen die Unterschiede zu. Die nationalstaatlichen Risikogesellschaften haben sich zu einer „Weltrisikogesellschaft“ (Beck 1996) verdichtet, die den inzwischen erzwungenen Grad globaler Vergesellschaftung durch zivilisatorisch erzeugte Gefahren widerspiegelt.

Auch das „späte Internet“ bietet keine Lösung. Seit der blockierten Transformation nach der Weltfinanzkrise von 2008 zu einem neuen wirtschaftlichen Paradigma — die „Plattform-Ökonomie“ ist es eher nicht — erleben wir eine Regression des „Mitmach-Internets“, so meine Beobachtung. Der Rückkanal ist immer weniger gefragt, es gibt die Renaissance des egozentrischen und weltgekränkten „Sendens“, wofür exemplarisch der Nachrichtendienst Telegram steht. Hier senden Fernsehköche, Fitnesstrainer oder ehemalige Tageschausprecherinnen ihre Verschwörungsmythen zur Corona-Panademie an eine sich exponentiell vermehrende Anhängerschaft.

Aber warum? Und was ist zu tun? Dazu drei Thesen und ein vorsichtiger Ausblick:

1) Die Corona-Pandemie verschärft die Gleichzeitigkeit von Vereinheitlichung und Zerfall der Weltgesellschaft

Der Umgang mit der Pandemie ist eine politische Verhandlungssache. Es gibt gesellschaftliche Auseinandersetzungen zwischen Wirtschaftsvertretern, Virologen, Schulträgern, „Landesvätern“ und Risikogruppen.

Die Probleme einer Pandemie entstehen auf lokaler, nationaler und globaler Ebene — und ihre Folgen sind ebenso, auf lokaler, nationaler und globaler Ebene spürbar. Über diese Folgen, ihre Wirkungen und Kosten, wird multilateral verhandelt — von der Videokonferenz der EU-Staaten bis zum WhatsApp-Chat der Kita-Elterngruppe, geht es um die Frage, wer welche Kosten der Pandemie, bzw. deren Eindämmung zu bezahlen hat.

Die „Kosten“ weiterer „Lockerungen“ der Kontaktbeschränkungen und Geschäftsschließungen werden stark ansteigende Todesfälle und mögliche Überlastungen der Gesundheitsinfrastruktur und Intensivbetten sein. Meinungen stehen gegen Fakten, Gesundheit gegen „die Wirtschaft“.

Diese Konflikte werden nicht nur in den klassischen Arenen der Politik ausgetragen, sondern immer stärker im Social Web. In der guten alten Zeit, also bevor weite Teile des Social Webs von Populisten und Rechtsextremen gekapert wurden, hätte die fortschrittliche Empfehlung (also auch meine) gelautet: Warum zur Coronabekämpfungs-Politik nicht jemand fragen, der sich eventuell damit auskennt: die Massen im Internet!? Die These von der „Weisheit der Massen“, der „Wisdom of Crowds“ (Surowiecki 2004) würde, übertragen auf die Eindämmungs-Politik, bedeuten, dass die Massen möglicherweise „bessere“ Lösungen anzubieten hätten, als die Experten aus Politik oder der Wissenschaft. Aber wofür steht diese Weisheit der Massen? Für einen allgemeinen Willen, den Volonté générale im Sinne Jean-Jaques Rosseaus, auf den sich auch die weltweiten Populisten berufen? Wollen wir uns tatsächlich auf das Konstrukt einer allgemeinen virologischen Pandemie-Eindämmungs-Weisheit einlassen, die es nur noch zu „entdecken“ gelte? Ich meine: Eher nicht.

Der behauptete „allgemeine Wille“ scheint beispielsweise nicht davor gefeit zu sein, in einer Weltverschwörung von 195 Staaten und Bill Gates die Antwort auf alle Fragen zu sehen. Sascha Lobo (2020) hat den „öffentlichen Nervenzusammenbruch“ vieler Menschen im Internet hier gut beschrieben: „Die Niedrigschwelligkeit der Veröffentlichung, die Gnadenlosigkeit der digitalen Alldokumentation und die Reaktionen des Publikums ergeben eine toxische Mischung: Soziale Medien können aus einem Nervenzusammenbruch ein lebensveränderndes Ereignis machen, denn Scham, Trotz und Verletztheit lassen in solchen Situationen die Flucht nach vorn attraktiv erscheinen.“ Die Flucht in den Wahn und die Verschwörungstheorien.

Warum auch sollte aus den widersprüchlichen individuellen Verhaltens- und Konsumweisen eine kollektive Weisheit erwachsen? Ein allgemeiner Wille zum vernünftigen Umgang mit dem Virus und der allgemeinen Nutzung von Schutzmasken in der Öffentlichkeit, zum Beispiel?

Die Coronavirus-Eindämmung besitzt in der Tat die Merkmale eines „Gemeinguts“, das Tragen einer Maske schützt nicht in erster Linie mich selber, sondern die Allgemeinheit.

Eine schwere narzisstische Kränkung: Wenn ich schon doof aussehe und einen „Maulkorb“ (!) tragen soll, dann soll es wenigstens in erster Linie MIR selber nutzen. Gleichzeitig profitiere ich davon, wenn alle anderen eine Maske tragen.

2) Die virenfreie Atmosphäre als Gemeingut tendiert zur Übernutzung

Die möglichst virenfreie Atmosphäre im öffentlichen Raum oder im Supermarkt gehört allen und niemandem, daraus ergibt sich eine Tendenz zur Übernutzung. Diese Interpretation bezieht sich auf die von Garret Hardin (1968) formulierte Tragödie der Gemeingüter („Tragedy of the Commons“).

Nach Hardin werden Gemeinschaftsgüter von rationalen Gewinn-Maximierern genutzt, wobei der Gewinn (= keine Viren) privat angeeignet wird, während der dem jeweiligen Gemeinschaftsgut zugefügte Schaden (= ich bin möglicherwiese selber infiziert) von allen Nutzern zu tragen ist. Mancur Olson (1968) beschrieb das ähnliche Problem des kollektiven Handelns, welches darin besteht, dass die Einzelnen keinen Anreiz haben, für öffentliche Güter zu bezahlen, von deren Nutzung sie nicht ausgeschlossen werden können. Zu lösen sei dieses Problem prinzipiell, so z. B. Ostrom (1989) nur durch einen starken Leviathan (vulgo: staatliche Auflagen), oder, gemäß der Property-Rights-Theorie, durch eine vollständige Privatisierung.

Soweit die Traumwelt. In der Praxis ist das Social Web in seiner derzeitigen Form keine virtuelle bessere Welt, die allen gehört, sondern als Oligopol in privatwirtschaftlicher Hand. Das Web hat nicht nur gesellschaftliche Vernetzungen befördert, sondern auch weltweite Ungleichheiten und Machtasymmetrien dramatisch beschleunigt. Dazu eine beispielhafte Zahl: Etwa die Hälfte aller Twitter-Accounts, die im Mai 2020 eine „Öffnung“ der USA fordern sind keine besorgten Bürger oder Geschäftsleute, sondern — Bots (siehe hier). Gegen diese rechtsextreme Bots-Armee müssten in einer global vernetzten dezentralen Subpolitik die vernünftigen und empathischen Menschen antreten. Also das gesellschaftliche Fachpersonal, das sich in den letzten 10, 15 Jahren herausgehalten hat, aus dem Social Web. Siehe meine Diagnose hier.

3) Die Legitimationsprobleme des „Mitmach-Internets“ führen zur Weltkränkung

Der vielbeschworene „Rückkanal“ im Internet hat die Ansprüche an direkte Einflussnahme gestärkt. Ansprüche, die „die Politik“ nicht einlösen kann. Zum Beispiel den Anspruch von Fitnesstrainern, Fernsehköchen oder andere Freiheitskämpfer in Deutschland, dass die Politik gefälligst jede einzelne Maßnahme, sämtliche Infektionsschutz-Auflagen, Gebote und Verbote, mit ihnen persönlich abzuklären hat.

Ich habe das „passiv-aggressives Nicht-Liken im Internet“ und narzisstische Weltkränkung genannt (hier), Jürgen Habermas schon 1973 „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“. Einer der wunderbarsten und fehl interpretiertesten Buchtitel of all times der guten alten Bundesrepublik, vermute ich. Gemeint war damit NICHT, dass der Spätkapitalismus eo ipso Legitimationsprobleme hätte (hat er, natürlich!), sondern dass der Wohlfahrtsstaat (wir reden von 1973) in seiner expansiven Phase Erwartungen gezüchtet habe, die er prinzipiell unter „spätkapitalistischen“ Bedingungen nicht einlösen könne. Dadurch sei der Wohlfahrtstaat in seiner Legitimation herausgefordert.

Übertragen auf die Webgesellschaft können wir konstatieren, dass das Versprechen des „Rückkanals“ im Internet Ansprüche an direkt-demokratische Einflussnahme befördert hat, die in der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie nicht einzulösen sind.

Daraus erwachsen am Ende die Politikverdrossenheit, Wohlstandsverwahrlosung, Nervenzusammenbrüche, narzisstische Kränkungen, ein geradezu wahnhafter „Widerstand“ und sogar die Systemfeindschaft von Fernsehköchen, die wir derzeit beobachten. Diese Radikalisierung erleben wir seit der sog. „Flüchtlingskrise“ nach 2015. Auch in der sog. „bürgerlichen Mitte“, die gerade erst das Social Web für sich entdeckt und sich angemeldet hatte, wurde der Anspruch formuliert, dass „die Politik“ gefälligst dafür zu sorgen habe, dass jede einzelne politische Maßnahmen, zum Beispiel die provisorische Nutzung einer kommunalen Sporthalle als Unterkunft für Geflüchtete, mit jedem einzelnen „besorgten Bürger“ abzusprechen sei. Die Legitimität repräsentativer politischer Entscheidungen in den Parlamenten wurde in Frage gestellt, weit verbreitet durch rechtsextreme Bots. Angefeuert wurden diese direkt-demokratischen Ansprüche, eingefordert auf Facebook, Twitter, in Leserbriefen, Kommentaren und in tausenden WhatsApp-Gruppen durch die Fixierung „der Medien“ auf dieses alles beherrschende Thema.

Wie damit umgehen? Einen Habermasschen „praktischen Diskurs“ führen? Mit einer „Kommunikationsgemeinschaft der Betroffenen, die als Beteiligte (…) den Geltungsanspruch von Normen prüfen und, sofern sie ihn mit Gründen akzeptieren, zu der Überzeugung gelangen, dass unter den gegebenen Umständen die vorgeschlagenen Normen ‚richtig‘ sind.“ Am Arsch die Räuber!

Die Wahrheit zwischen Weltverschwörung und sinnvoller Virus-Eindämmungspolitik liegt eben nicht „in der Mitte“, und Diskussionen mit verwirrten Widerstandskämpfern oder ostentativen Nicht-Händewaschern wie Frank Castorf erscheinen sinnlos. Stattdessen widersprechen. Zeigen, dass man rechtsextreme, antisemitische Verschwörungsmythen nicht akzeptiert. Das theoretische Problem besteht also darin, ob und wie es einer großen Gruppe — in diesem Fall der großen Gruppe der „vernünftigen Pandemie-Eindämmungsbefürworter“ grundsätzlich möglich ist, öffentliche Güter (wie die möglichst virenfreie Atmosphäre) gemeinsam zu schützen und wie dem Trittbrettfahrer-Verhalten von Individuen, Verbänden oder Unternehmen, die sich nicht an Virenschutzmaßnahmen beteiligen, gleichwohl aber vom Gesamtnutzen der Eindämmungspolitik profitieren, zu begegnen ist.

Diese Herausforderung könnte auch neue Möglichkeiten einer umfassenden Beteiligung von Akteuren und Betroffenen eröffnen — und sei es aus den weltweit vernetzten Heimbüros. Wenn sich die Ökonomie und die Gefahren globalisieren, so die normative These, müsse sich auch die Politik und damit die Demokratie globalisieren und eine „Weltinnenpolitik“ befördern (z. B. Held 1995).

Wichtig erscheinen neue Allianzen in der Webgesellschaft, auch um den vermeintlichen Gegensatz von Gesundheit und Wirtschaft aufzulösen. Modellrechnungen zeigen (siehe hier), dass die volkswirtschaftlichen Kosten von Social Distancing und anderen Einschränkungen geringer sind als eine Politik, die versucht, eine Herdenimmunität zu befördern, die Durchseuchung der Bevölkerung bei weitgehend „uneingeschränktem“ Betrieb der Wirtschaft.

Neue Allianzen in der Webgesellschaft und Geschichten guten Gelingens

Wie aber lassen sich diese Allianzen schmieden? Entscheidende Bedeutung kommt der Frage zu, wie über Pandemie-Bekämpfung zukünftig gedacht wird, in den Unternehmen, der Politik — und, natürlich auch der Wissenschaft. Zum Beispiel in der Entwicklung und weltweiten Verteilung eines Impfstoffs durch eine überstaatliche Institution wie die Weltgesundheitsorganisation.

Die vorherrschenden Widersprüche zwischen Zentrum und Peripherie im Weltsystem lassen sich nicht durch einen Leviathan auflösen. Bleiben wir trotzdem positiv, denken wir dialektisch und utopisch, vernetzen wir uns mit Gleichgesinnten, machen wir die Promotoren gesellschaftlichen Wandels und einer vernünftigen Pandemie-Bekämpfung aus.

Dr. rer. pol. Gerald Fricke, Politikwissenschaftler und Wirtschaftsinformatiker, forscht zur Webgesellschaft und berät Unternehmen zur Digitalen Transformation. Er war Akademischer Rat an der TU Braunschweig, Internet-Konzeptioner bei Elephant Seven, hat über internationale Klimapolitik promoviert, hat Bücher über komische Jahrzehnte geschrieben und postet jeden Tag sein Mittagessensfoto, irgendwo im Social Web. Website: http://geraldfricke.de

Literatur

Beck, Ulrich, 1996: Weltrisikogesellschaft, Weltöffentlichkeit und globale Subpolitik. Ökologische Fragen im Bezugsrahmen fabrizierter Unsicherheiten, in: Diekmann, Andreas/Jäger, Carlo C. (Hg.), 1996: Umweltsoziologie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 36/1996, Köln, 119–147.

Fricke, Gerald, 2001: Von Rio nach Kyoto. Verhandlungssache Weltklima: Globl Governance, Lokale Agenda 21, Umweltpolitik und Macht, Berlin.

Habermas, Jürgen, 1995 (erste Aufl. 1981): Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt am Main.

Habermas, Jürgen, 1973. Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt am Main.

Hardin, Garrett, 1968: The Tragedy of the Commons; in: Science, 162 (1968), 1243–1248.

Held, David, 1995: Democracy and the Global Order. From the Modern State to Cosmopolitican Governance, Cambridge.

Hoffmann, Arnd, 2005: Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie, Frankfurt am Main.

Olson, Mancur Jr.:, 1968: Die Logik des kollektiven Handelns: Kollektivgüter und die Theorie der Gruppen, Tübingen (3. Aufl. 1992).

Ostrom, Elinor, 1989: Institutionelle Arrangements und das Dilemma der Allmende; in: Glagow, H./Willke, H./Wiesenthal, H. (Hg.), 1989: Gesellschaftliche Steuerungsrationalität und partikulare Handlungsstrategien, Pfaffenweiler, 199–234

Rousseau, Jean-Jacques, 2006: Der Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, Wiesbaden 2006 (Erstausgabe 1762).

Surowiecki, James, 2004. The Wisdom of Crowds: Why the Many Are Smarter Than the Few and How Collective Wisdom Shapes Business, Economies, Societies and Nations, London.

Waltz, Kenneth N., 1979: Theory of International Politics, New York

Young, Oran R., 1989: International Cooperation. Building Regimes for Natural Ressources and the Environment, London.

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Dr. Gerald Fricke

Was mit Webgesellschaft, Wirtschaftsinformatik, Politikwissenschaft, Beratung, Literatur und Satirekompetenz. Website: http://geraldfricke.de